Car on asphalt road in summer

Hochdisperse Silica werden häufig in Mischungen für
Reifen verwendet. (Bild: Evonik)

Anfang der 1940er Jahre entwickelten Forscher der Degussa, einer der Vorgängergesellschaften der Evonik Industries, erstmals synthetisch amorphes Silica (SAS). Grund für die Entwicklung der hochoberflächigen pyrogenen Kieselsäure war die Suche nach einem Ersatzstoff für den während der Kriegszeit aufgund schlechtem Zugang zu Rohöl knappen, aber für die Reifenproduktion strategisch wichtigen Industrieruß. Industrieruß, auch Carbon Black genannt, wird durch partielle Oxidation von Öl hergestellt und war – früher wie heute – ein für Reifen unverzichtbarer aktiver Füllstoff, ohne den sich der Reifen wie ein Radiergummi schnell abnutzen würde. Was damals in der Not entwickelt wurde, existiert noch heute: Unter dem Markennamen Aerosil gibt es eine breite Palette hydrophiler und hydrophober pyrogener Kieselsäuren für die unterschiedlichsten Anwendungen, nur kam es nie zum Einsatz als Rußersatz in Reifen.

Die Gründe hierfür waren die schwierige Einarbeitbarkeit in Reifenmischungen und die gegenüber Carbon Black höheren Kosten. 1951 entwickelten Forscher am Standort Wesseling erstmals eine gefällte Kieselsäure. Die Eigenschaften dieser Silica waren ähnlich der pyrogenen Kieselsäure, jedoch ließ sie sich wesentlich günstiger produzieren. Erstmals eingesetzt wurde die unter dem Markennamen Ultrasil vertriebene Silica als Rußersatz in den Gummisohlen von Turnschuhen, die fortan keine schwarzen Streifen mehr auf Hallenböden hinterließen. Diese Neuerfindung eröffnete die Erfolgsgeschichte von Silicaanwendungen in der Gummiindustrie. In den 1960er Jahren wurde Silica erstmals bei den Reifen großer Minenfahrzeuge eingesetzt, um deren Reißfestigkeit zu verbessern.
Doch der richtige Durchbruch der Kieselsäuren in der Reifenindustrie gelang erst rund 40 Jahre später: 1992 entwickelte der französische Reifenhersteller Michelin die ersten „grünen Reifen“ (Green Tires). Dies gelang durch die Kombination von Silica mit dem von der Degusssa in den 1970er Jahren entwickelten Schwefelsilan Si 69 und dem Einsatz eines Gemisches von S-SBR und BR Kautschuk. Die „grünen Reifen“ zeichnen sich durch eine verbesserte Haftkraft auf nassen Straßen bei gleichzeitig reduziertem Rollwiderstand, der ca. 5 Prozent Kraftstoff einspart, aus. Anfangs war die Nachfrage nach den neuartigen Reifen noch verhalten. Dies änderte sich erst in den darauffolgenden 15 Jahren, als die Energiepreise deutlich stiegen, sich das Umweltbewusstsein (CO2-Emissionen!) änderte und auch die Sicherheitsaspekte bei immer größeren und schnelleren Kraftfahrzeugen (Bremsweg!) eine wichtigere Rolle spielten.

 

Silica/Silan-Technologie als Wegbereiter

Der Schlüssel zum Durchbruch der Green Tires lag im Aufbau der Reifenlaufflächen. Durch die partielle Substitution von Carbon Black durch gefällte Kieselsäuren wird der Rollwiderstand verringert bei gleichzeitiger Erhöhung der Nasshaftung. Da sich die hydrophile Silica nicht mit dem hydrophoben Kautschuk vermischt, erfordert dies die Zugabe eines Schwefelsilans, um die eigentlich miteinander unverträglichen Komponenten Kautschuk und Silica chemisch miteinander zu verbinden. Dies gelang erstmals mithilfe der Silica/Silan-Technologie von Evonik – Ultrasil VN 3 und Si 69 stehen für diese Entwicklung. Die Reifenhersteller wussten dieses neuartige Verstärkungssystem in der Gummimischung zu schätzen. Gerade im Winter zeigten sich die enorm verbesserten Bremseigenschaften der Kieselsäure gegenüber der reinen rußgefüllten Reifen: Auf nasser Fahrbahn konnte der Bremsweg bei einer Geschwindigkeit von 80 Stundenkilometern um 18 Meter verkürzt werden.

 

Neue Lösungen für neue Anforderungen

Mit der Einführung des EU-Reifenlabels zur Absenkung der CO2-Emissionen bekam die Weiterentwicklung des Silica/Silan-Systems weitere Impulse: Seit 2012 sind Reifenhersteller in der Europäischen Union verpflichtet, ihre Produkte mit einem Reifenlabel zu kennzeichnen. Autos mit Reifen der höchsten Kategorie (grüne Kategorie A) verbrauchen etwa 7,5 Prozent weniger Kraftstoff als PKW mit Mindeststandard-Reifen (rote Kategorie G). Unter Verwendung neuer HD Silica-Typen und dem Hochleistungssilan Si 363™ von Evonik lassen sich heute sogar bis zu 8 Prozent Kraftstoff gegenüber den konventionellen rußgefüllten Reifen einsparen.

In Zukunft könnte die Silica/Silan-Technologie noch wichtiger werden, denn nach den Green Tires für PKW wird jetzt an entsprechenden Reifen für LKW und Busse geforscht. Hier gibt es noch Hürden zu überwinden, da die LKW- und Busreifenlaufflächen nicht aus synthetischem, sondern zum großen Teil aus Naturkautschuk bestehen. Auch bei der Elektromobilität setzen die Hersteller auf Reifen mit geringem Rollwiderstand, um die Reichweiten der Elektro-Fahrzeuge zu erhöhen. Da die Reifen aufgrund des höheren Drehmoments elektrischer Motoren schneller verschleißen, ist auch ein geringerer Abrieb/höhere Abrasionsbeständigkeit dringend erforderlich. Alle diese Eigenschaften weisen die grünen Reifen mit der Silica/Silan-Technologie auf.

Neben der Elektromobilität gibt es noch einen weiteren Aspekt für die Weiterentwicklung des Silica/Silan-Systems und der kontinuierlichen Erweiterung des Portfolios von Evonik: Der Wunsch der Reifenhersteller nach effizienter Verarbeitbarkeit. So lassen sich Gummimischungen etwa durch die Zugabe des einzigartigen Prozessadditives Vestenamer von Evonik besser und effizienter verarbeiten. Die flüssigen Polybutadiene Polyvest sorgen für eine weitere Reduzierung des Rollwiderstandes. Erste Versuche haben außerdem gezeigt, dass eine Reduktion von Ölen als Weichmacher möglich ist.

 

Von Anfang bis Ende umweltschonend

Grüne Reifen aus S-SBR-Kautschuk und dem Silica/Silan-System senken den Gesamtkraftstoffverbrauch eines Fahrzeuges. In einer gerade veröffentlichten Ökobilanz* konnte Evonik zudem belegen, dass die Umweltverträglichkeit grüner Reifen besser ist als die rußgefüllter – und zwar über den gesamten Lebenszyklus der Pneus hinweg. So etwa können das Treibhauspotential um 4,9 Prozent gesenkt und Emissionen von bis zu 1,4 Tonnen CO2-Äquivalente (unter Annahme einer Fahrstrecke von 150.000 km) vermieden werden.

 

Ein Rohstoff, viele Anwendungsbereiche

Heute ist das hochdisperse Silica der Reihe Ultrasil von Evonik besonders für die Reifenherstellung bedeutend. Silica dieser Produktfamilie kommen aber auch im Bereich der technischen Gummiartikel zum Einsatz. Hier senkt es etwa den Rollwiderstand von Förderbändern und wird als aktiver Füllstoff für farbige Gummiartikel oder Produkte, die im Lebensmittelkontakt eingesetzt werden, verwendet.
Aber auch die pyrogene Kieselsäure Aerosil hat Eingang in die Elastomerwelt gefunden: So wird das Additiv in transparenten Gummimischungen zum Beispiel für Sportschuhsohlen verwendet und ist heute der wichtigste verstärkende weiße Füllstoff in Siliconkautschuken.

 

*) Life Cycle Assessment of Silica/Silane and S-SBR used in treads of Green tires including potential differences to carbon black and E-SBR used in treads of Black tires” (Evonik Resource Efficiency GmbH, 2016)

Dr. Jens Kiesewetter

Director Applied Technology Tire & Rubber Evonik Resource Efficiency, Wesseling   jens.kiesewetter@evonik.com

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