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In dem Motorlager für Elektromotoren sind zusätzliche Gummi auf der Hauptgummifeder, der so genannte Flap oder Flügel (blau), angebracht, die gezielt hohe störende Frequenzen, die vor allem bei Elektromotoren auftauchen, dämpfen. (Bild: alle Vibracoustic, Benteler)

Die Elektrifizierung in der Automobilindustrie schreitet kontinuierlich voran. Sie stellt nicht nur neue technische Anforderungen, sondern bedeutet auch eine große wirtschaftliche Herausforderung für OEM und Zulieferer. So müssen Automobilhersteller ihre Entwicklungszeiten verkürzen und suchen deshalb immer öfter nach vorvalidierten Systemlösungen. Solche Konzepte bieten eine einfache und zuverlässige Möglichkeit, ein neues Elektrofahrzeug von Grund auf zu bauen und in Serie zu bringen.

Vibrationen und Schwingungen in Elektrofahrzeugen

Vor diesem Hintergrund sind der Zulieferer Vibracoustic und der Systemintegrator Benteler eine strategische Partnerschaft eingegangen. Im Februar lud
Vibracoustic zu einem Vor-Ort-Termin ein, um das Ergebnis der Kooperation vorzustellen. In der Zusammenarbeit bündeln die Unternehmen ihre Kompetenzen in der Entwicklung von NVH-Lösungen (Noise, Vibration, Harshness) für Elektrofahrzeuge. Denn die elektrische Antriebstechnik verändert das NVH-Verhalten von Fahrzeugen deutlich. Elektrofahrzeuge sind zwar leiser, erzeugen jedoch auch Vibrationen und Geräusche, die für Menschen in einem unangenehmeren Frequenzbereich liegen.

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Für die Materialentwicklung setzt der Kautschukverarbeiter zu 80 Prozent Naturkautschuk in den Dämpfern und Lagern ein.

Während Verbrennungsmotoren Schwingungen vor allem zwischen 20 und 400 Hertz erzeugen, sind es bei Elektromotoren bis 10.000 Hertz und mehr. Die Schwingungen können bei ungeeigneter Lagerung und Entkopplung der Schallquellen als Körperschall in den Innenraum eines Fahrzeugs übertragen werden. Gleichzeitig drängen wegen der fehlenden Maskierung durch den Verbrennungsmotor bislang ungehörte Geräusche in den Vordergrund: Abroll- und Windgeräusche oder bislang überhaupt nicht registrierte Geräuschquellen wie der Kompressor der Klimaanlage sind jetzt deutlich wahrnehmbar. Darüber hinaus fahren Elektrofahrzeuge mit einer ganz anderen Dynamik als konventionell angetriebene Fahrzeuge. Die Lagerungssysteme werden komplexer und stellen immer höhere Anforderungen an Material, Konstruktion und Qualitätssicherung.

„Um unsere Elektromobilitätslösungen entsprechend
der Bedürfnisse unserer Kunden zu entwickeln,
arbeiten wir mit einem großen Netzwerk strategischer Partner wie Vibracoustic zusammen“

Marco Kollmeier, Vice President der Business Unit Electro-Mobility von Benteler Automotive

Verschiedene Lagerstellen im Fahrzeug wirken bei Elektrofahrzeugen stark zusammen. Wenn der E-Motor wie an Hinterachsen üblich auf einem elastisch aufgehängten Fahrschemel gelagert wird, so beeinflussen zum Beispiel Motorlager und Fahrschemellager zusammen und im Verbund das NVH-Verhalten maßgeblich. Die Lager können dann nicht sinnvoll unabhängig voneinander spezifiziert und entwickelt werden.
Für die Lager setzt der Elastomerverarbeiter zu 80 Prozent Naturkautschuk ein. Außerdem werden Zwei-Komponenten-Materialien, temperaturresistenter Ethylen-Propylen-Dien-Kautschuk (EPDM) oder Mikrozelluläres Polyurethan (MCU) verarbeitet. In umfangreichen Tests werden die Materialproben auf Schwingungsverhalten, Alterung, Temperatur und viele weitere Eigenschaften geprüft. „Auch die Temperaturanforderungen müssen erfüllt werden, denn trotz der elektrischen Motoren können recht hohe Temperaturen rund um den Antrieb herrschen“, wie Dr. Melanie Gräfen, Senior Director Material Development & Compliance Advanced Engineering bei Vibracoustic, erklärt.

Umfangreiche und empfindliche Messgeräte-Ausstattung

Nach der Material-Vorentwicklung werden die Prototypen zahlreichen Funktionstests unterzogen. Bei Vibracoustics sind die eine Vier-Stempel-Anlage, ein

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Auf dem Prüfstand im schallisolierten Raum werden selbst leiseste Geräusche identifiziert. Bildquelle: alle Vibracoustic, Benteler

Rollenprüfstand in einem schalltoten Raum, einem Achsprüfstand und dazugehöriger Messtechnik. Die Möglichkeiten zur Analyse von Hochfrequenzkonzepten sind außergewöhnlich auf dem NVH-Markt, so Dr. Thomas Rottner, Vizepräsident Advanced Engineering, Vibracoustic. Die NVH-Experten führen akustische Analysen sowie umfassende experimentelle und virtuelle Vibrationsanalysen auf Fahrzeug-, Subsystem- und Komponentenebene durch. Die Herausforderung in der Entwicklung: Die Optimierung der NVH-Leistung ohne das fahrzeugspezifische Handling zu beeinträchtigen.
Auf der Vier-Stempel-Anlage und dem Rollenprüfstand analysiert, optimiert und bewertet der Zulieferer die Auswirkungen der Fahrzeugarchitektur und ihrer Komponenten auf die NVH-Leistung. Dazu werden Parameter wie Vibrationen an Sitzschiene und Hilfsrahmen, Auslenkungen oder Betriebsschwingungen berücksichtigt. Mit der Vier-Stempel-Anlage kann jedes Rad einzeln oder eine Kombination von Rädern vertikal bewegt werden, um das Fahrzeugverhalten zu untersuchen und die Fahrzeugleistung mit den Simulationsmodellen abzugleichen. Geräusche von Elektromotoren, konventionellen Verbrennungsmotoren, von Antriebswellen sowie von internen Lärmquellen werden durch Tests auf dem akustischen Rollenprüfstand identifiziert.

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Hilfsrahmenlager

Die Messgeräte zeichnen mehr als 150 Datenkanäle gleichzeitig auf und verarbeiten diese zusammen mit den Daten, die vom internen CAN-Bus-System des Fahrzeugs ausgelesen werden. Die Signale stammen beispielsweise von Beschleunigungsmessern im Fahrzeug, Mikrofonen im Inneren des Fahrzeugs und in der Nähe des Motors oder von Temperatursensoren nahe an den Motorlagern. Auf dem Achsprüfstand analysiert, optimiert und bewertet der Hersteller Komponentenfunktionen im Achs-Subsystem und ermittelt verschiedene Systemsteifigkeiten. Freie Vibrationen der Achse und Auswirkungen von beispielsweise Beschleunigungen und nicht ausgewuchteten Rädern werden analysiert, um die Längs- und Querkräfte sowie deren Einfluss zu verstehen. „Wir wissen, wie jede Komponente mit der Achse oder dem gesamten Fahrzeug interagiert und können nichtlineare Kräfte und Beschleunigungen sowie die Einflüsse von Komponentenparametern wie dynamischer Steifigkeit und Dämpfung identifizieren“, so Rottner. Auf Basis der Ergebnisse der experimentellen Analysen optimiert der Hersteller das Design seiner Komponenten.
Nachdem Komponentenspezifikationen und -anforderungen wie Bauraum, Lebensdauer, Montagepunkte, statische und dynamische Lasten, Fahreigenschaften und DNA des jeweiligen Fahrzeugs definiert sind, entwickelt das Unternehmen das Bauteildesign der NVH-Komponente über computergestützte Entwicklung. Durch die Finite-Element-Analyse kann der Automobilzulieferer die Anzahl an physischen Prototypen und experimentellen Analysen reduzieren, da die Komponenten bereits in der

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Die hochfrequenten Schwingungen können sich bei schlechter Entkopplung als Körperschall im Innenraum ausbreiten und die Fahrzeuginsassen erheblich stören.

Designphase optimiert werden.

„Komfort ist entscheidend für das gesamte Fahrerlebnis und deshalb passt die Partnerschaft zwischen Benteler und Vibracoustic perfekt.“

Frank Müller, Geschäftsführer von Vibracoustic

Vorentwickelte Systemlösung spart Zeit und Kosten

Anspruchsvolle NVH-Dämpfung und -Entkopplung spielt bereits jetzt bei extrem robusten Fahrwerklager oder innovativen Luftfedersystemen eine größere Rolle. Gleichzeitig ist das NVH-Verhalten aktuell bei vielen OEMs zu Beginn der Fahrzeugentwicklung nicht im Fokus, da die Ressourcen für andere Bereiche benötigt werden. In der Kooperation von Vibracoustic und Beneteler bündeln die Partner ihre Kompetenzen bei der Entwicklung von Chassis-Lösungen für Elektrofahrzeuge: Sie ermöglicht es Benteler, Automobilherstellern geräusch- und schwingungsoptimierte Fahrwerkslösungen anzubieten. Automobilhersteller können so ihre Entwicklungszyklen verkürzen, indem sie sich auf ein System verlassen, das bereits in Bezug auf NVH optimiert ist. Die elektrischen und elektronischen Komponenten der Vorentwicklung lieferte das Unternehmen Bosch.

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Für die Schallmessungen im Hochfrequenzbereich ist extrem empfindliches Messequipment erforderlich.

Dieses vorvalidierte Vorder- und Hinterachssystem bietet eine hohe Funktionalität und Qualität von Elek-trofahrzeugen. Durch die Partnerschaft profitieren OEMs zudem von schnelleren Produkteinführungen und einfacher Anpassung für eine Vielzahl von Fahrzeugklassen. Ein weiterer Vorteil ist die geringere Komplexität bei der Entwicklung und Produktion.
Im Rahmen der strategischen Partnerschaft konnten bereits viele Erkenntnisse generiert werden, die für zukünftige Kundenprojekte eine weitere Effizienzsteigerung im Entwicklungsprozess gewährleisten. Hierzu gehören Standardisierungen sowie Richtlinien, in denen, je nach Anforderungsprofil, spezielle NVH-Produkte, Abstimmungsspezifikationen sowie zu adressierende Frequenzbereiche identifiziert wurden.

Dr. Etwina Gandert

Redakteurin KGK

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