Bild 1: Experimentalprüfmaschine zur zyklischen Belastung von Elastomerproben (Typ „S1“ oder „S2“)

Bild 1: Experimentalprüfmaschine zur zyklischen Belastung von Elastomerproben (Typ „S1“ oder „S2“) (Bild: TH Bingen)

In der Arbeitsgruppe „Elastomertechnik“ im Maschinenbau der TH Bingen steht die Verknüpfung von theoretischen Grundlagen der Elastomerphysik und Simulationstechniken mit praktischen Anwendungen und Experimenten im Vordergrund. So gibt es speziell im Master-Programm „Allgemeiner Maschinenbau“ zwei Vorlesungen, die sich mit dieser Thematik beschäftigen. Sowohl in der „Werkstofftechnik und Simulation“ als auch bei „Nichtlinearen FE-Methoden“ liegt ein Schwerpunkt beider Veranstaltungen auf den physikalischen Phänomenen polymerer Werkstoffe und den daraus resultierenden besonderen nummerischen Methoden, die hier zur Anwendung kommen. In Anwendungsprojekten und Praktika werden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ebenfalls mit den praktischen Resultaten dieser „Gedankenwelt“ konfrontiert – bis hin zum Bau von teilweise aufwendigen Experimenten zum Ausgestalten der entsprechenden Versuchsführungen inklusive entsprechender Mess- und Auswertetechnik, um die experimentellen Befunde in die Simulationen einfließen zu lassen. Die Deutsche Kautschuk Gesellschaft (DKG) unterstützt neben dem Freundeskreis der TH Bingen dankenswerterweise regelmäßig diese Art des Lehrformats an der TH. Dieser Beitrag wird anhand der Experimentalprüfmaschine, die in den letzten Jahren entwickelt und immer weiter ausgebaut wurde, darstellen, welche Möglichkeiten bestehen, elastomere Werkstoffe zu prüfen, siehe [1]. Der Fokus liegt auf der begleitenden Auswertung der Dissipation im Werkstoff.

Bild 2: Rheologisches Grundmodell – „Poynting-Körper“. Hiermit lassen sich grundlegende, viskose Werkstoffeigenschaften von Elastomeren mithilfe der drei Parameter beschreiben.
Bild 2: Rheologisches Grundmodell – „Poynting-Körper“. Hiermit lassen sich grundlegende, viskose Werkstoffeigenschaften von Elastomeren mithilfe der drei Parameter beschreiben. (Bild: TU Bingen)

Welche Prüfungen die Maschine ermöglicht

Diese Prüfmaschine belastet standardisierte S1- oder S2-Zugstäbe im Zug-schwellenden Bereich durch eine Exzenteranregung mit einer (nahezu perfekten) harmonischen Auslenkung, siehe Bild 1. Damit sind hiermit Wöhler-Experimente beziehungsweise Lebensdauerprüfungen möglich, siehe beispielsweise [2] und dortige Referenzen. Es wurde eine kontinuierliche Auswertung und Mitschrift der Dissipation favorisiert, das heißt das Bestimmen der Größe der Hysterese aufgrund der Phasenverschiebung zwischen Eingangs- und Ausgangssignal beziehungsweise Weg und Kraft. Damit lassen sich markante Unterschiede zwischen verschiedenen Werkstoffmischungen feststellen und analysieren. Sehr interessant ist dabei durchaus der Vergleich mit einer, wenn auch noch so einfachen Vorstellung eines rheologischen Modells, mit der einzelne Parameter betrachtet und deren Entwicklung im Laufe der Experimente verfolgt werden kann. In diesem Fall stand das rheologische  Modell eines sogenannten Poynting-Körpers im Fokus, das die Werkstoffeigenschaften mit drei Parametern (zwei Steifigkeiten und einer Viskosität) beschreibt (Bild 2). Damit ist es möglich, auf einfache Art und Weise bestimmte Eigenschaften von Gummi zu analysieren. Hier ist zu sehen, wie es möglich ist die Phasenverschiebung zwischen Eingangs- und Ausgangssignalen bei harmonischer Anregung von Werkstoffproben zu betrachten.

Bild 3: Kraft-Weg-Kennung eines beispielhaften experimentellen Befunds.
Bild 3: Kraft-Weg-Kennung eines beispielhaften experimentellen Befunds. (Bild: TU Bingen)

Diese Ausführungen zielen darauf ab, bei der Prüfung von Elastomeren gleichzeitig auch bestimmte Werkstoffparameter wie zum Beispiel die Steifigkeit und die Hysterese kontinuierlich mitzubestimmen, um Unregelmäßigkeiten in den Messungen zu detektieren. Gewiss ist dies hier und jetzt keine neue Erkenntnis, doch soll die Auswertung der Hysterese resümiert werden. Bei dem in Bild 2 gezeigten rheologischen Modell handelt es sich um die Parallelschaltung einer Feder (= Weg-proportionales Glied) mit einer Reihenschaltung wiederum einer Feder und eines Dämpfers (= Geschwindigkeits-proportionales Glied), welcher hier die Ratenabhängigkeit des Gesamtmodells einbringt. Damit ergibt sich zwischen Anregung (Weg, Dehnung) und Ausgangssignal (Kraft, Spannung) ein Zusammenhang in Form einer Differentialgleichung. Diese lässt sich – zumindest im Bereich „kleiner Deformationen“ („small strain regime“) – noch analytisch lösen und führt bei der harmonischen Weg-/Dehnungsanregung ε(t)= ε(1+ sin(ω t)) mit ω = 2π f im stationären Zustand für t → ∞ auf die resultierende Spannung in Form eines Integrals über die verstrichene Zeit t und damit nach [5] oder [6] zu Auch nummerische Lösungen beispielsweise durch schrittweise Näherung der Integration in Excel („semi-analytisch“) oder Zeitintegrationen im Rahmen einer FEM-Simulation sind recht schnell umsetzbar. Mitunter ist die letztere Lösung sogar etwas flexibler, weil hiermit „große Deformationen“, wie sie in der Regel bei Gummiwerkstoffen anzutreffen sind, leichter zu berücksichtigen sind. Zudem kommt diesen Analysen in den letzten Jahren zunehmend Bedeutung zu, siehe [3] und [4], weil Gummimischungen beziehungsweise entsprechende Bauteile durchaus „große Deformationen“ („large strain regime“) erfahren. Hierfür sind nichtlineare Analysen notwendig, deren Anwendung ebenfalls im Rahmen von large amplitude oscillatory strain („LAOS“) Beachtung findet und weitere Einblicke in die Rheologie von Mischungen ermöglicht. Allen Lösungswegen ist gleich, dass damit sehr schnell und eindeutig Rückschlüsse auf den Einfluss der drei Parameter E,E1 und η1 erhalten und diese im Einzelnen abhängig von Anregungsfrequenz und -amplitude bewertet werden können.

Formel
(Bild: TH Bingen)

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Diskussion der Ergebnisse

Exemplarisch werden hier Ergebnisse für eine NR-basierte Mischung gezeigt, die mit Silika verstärkt und semiev bei einer Vulkanisation von 8,5 Min. vernetzt ist, sodass eine Härte von 64 Shore A realisiert wird. An diese Ergebnisse lassen sich die Spannungs-Dehnungs-Beziehung wie oben diskutiert durch Variation der Materialparameter E, E1 und η1 für eine gegebene Anregungsfrequenz anpassen. So wird ein eindeutiger Parametersatz erhalten, der die experimentellen Resultate – zumindest im Rahmen der angesetzten Modellierung – im eingeschwungenen Zustand bestmöglich beschreibt (Bild 4). Eine Anpassung an die oben gezeigten Daten liefert hier bei einer Querschnittsfläche von A=8 mm² und einer Bezugslänge von l0 =30 mm für die drei Parameter die Werte E = 2,0237 MPa, E1 = 5,5 MPa und η1 = 0,0562 MPas. Im Vergleich der experimentellen Daten (hier in rot) mit den Modellwerten (blau) werden ebenso die Defizite dieses sehr einfachen Modells erkannt: Es ist hiermit nicht möglich, den in Bild 3 und Bild 5 gezeigten „S-Schlag“ der Spannungs-/Kraftantwort abzubilden. Insbesondere in den auf- und absteigenden Flanken der roten Messreihe fällt in Bild 4 der Unterschied zu den Modellwerten auf. Eine Anpassung an ein hyperelastisches Grundmodell wäre hier anstelle der Feder E sehr leicht möglich. Dies wird jedoch an dieser Stelle nicht diskutiert.

Lienendiagramme mit roten und blauen Linien.Bild 4: Bestmögliche Anpassung „harmonisches Modell“ (blau) / „experimentelle Daten (rot)“ für einen stationären Zyklus.
(Bild: TU Bingen)

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Mit diesen Informationen berechnet sich ebenfalls die Dissipation, hier also die theoretische Hysterese aus den Amplituden von Anregung und Antwortsignal und dem Winkel δ der Phasenverschiebung. Dies lässt sich mit dem experimentellen Befund vergleichen und zum weiteren Verständnis der Daten einordnen. Im hier gezeigten Fall zeigt die Messung aus Bild 3 und Bild 5 eine Dissipation aus der Hysteresefläche bestimmt von 26,52 Nmm und damit einen Phasenwinkel von δ = 4,0°. Die oben gezeigte Anpassung an das einfache Werkstoffmodell liefert hierfür eine Dissipation von 25,02 Nmm bei einer Phase von δ=3,6°. Der Vergleich dieser Ergebnispaare liefert also nahezu die gleichen Werte, obwohl doch ein recht einfaches Modell zur Anpassung verwendet worden ist – und die beiden hier genannten Ergebnisse für Dissipation und Phasenwinkel gerade nicht direkt Inhalt und Ziel der Anpassung waren, sondern nur als indirekte Folge dieser Anpassung angesehen werden können. Genau dies untermauert nochmals das hier angesprochene Plädoyer einer Mitschrift und zeitgleiche Auswertung eines noch so einfachen Modells während eines Experiments, um damit gleichzeitig ein weitergehendes Verständnis der Daten zu erhalten.

Quelle: Technische Hochschule Bingen


Literatur / Quellen

[1] Baaser & Plein, „Experimental testing Machine for Elastomers for Educational Purposes and Didactics“, Kautschuk Gummi Kunststoffe 11-12, 41-45, 2019.
[2] Belkhiria, Seddik, Atig, Sghaier, Hamdi & Fathallah: “Fatigue reliability prediction of rubber parts based on Wöhler diagrams”, The International Journal of Ad-
     vanced Manufacturing Technology, volume 96, pages 439-450 (2018).
[3] Ewoldt, Hosoi, McKinley: “New measu res for characterizing nonlinear viscoelasticity in large amplitude oscillatory shear (LAOS)”. Journal of Rheology 52, 1427 (2008).
[4] Heinz, Kroll, Rauschmann: “Characterization of Summer Tire Tread Compounds by Large Amplitude Oscillating Shear (LAOS)”. KGK, 70(4), 41-46 (2017).
[4] Krawietz: „Materialtheorie: Mathematische Beschreibung des phänomenologischen thermomechanischen Verhaltens“, Springer, 1986, ISBN 978-364 2825132.
[6] Wrana: „Polymerphysik: Eine physikalische Beschreibung von Elastomeren und ihren anwendungsrelevanten Eigenschaften“, Springer Spektrum, 2014.

 

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