Boris Engelhardt, Hauptgeschäftsführer Wirtschaftsverband der deutschen Kautschukindustrie e.V. im Anzug und Krawatte.

Boris Engelhardt, Hauptgeschäftsführer Wirtschaftsverband der deutschen Kautschukindustrie e.V. (Bild: wdk)

Wie weit ist die deutsche Kautschukindustrie auf dem Weg zu nachhaltigem Wirtschaften? Welche Meilensteine wurden bereits erreicht?

Boris Engelhardt: Wir haben in den letzten zehn Jahren deutliche Fortschritte gemacht! Aber es bleibt spannend. Nicht nur mit Blick auf die aktuelle staatliche Regulierung. Nachhaltiges Wirtschaften bedeutet für uns als deutsche Kautschukindustrie, den gesamten Lebenszyklus unserer Produkte in den Blick zu nehmen. Der beginnt bei den Rohstoffen wie Natur- und Synthesekautschuk, Füllstoffen und Additiven. Daran schließt sich die Herstellung von Produkten für die verschiedensten Anwendungsbereiche wie zum Beispiel Mobilität, Industrie, Bau, Gesundheit und Lebensmittelproduktion an. In all diesen Bereichen verrichten Kautschukprodukte oft jahre- oder sogar jahrzehntelang zuverlässig ihren Dienst, bevor sie ihr Lebensende erreichen. Die Kautschukindustrie setzt heute in allen Lebensphasen der Produkte an, um einen positiven Beitrag zur nachhaltigen Transformation zu leisten. Sie beschafft ihre Rohstoffe in verantwortungsbewusster Weise und unter zunehmender Einbeziehung von biobasierten, das heißt nachwachsenden Rohstoffen und Recyclingmaterial. Die Produktionsprozesse werden immer energieeffizienter. Kautschukprodukte sind auch unerlässlich für die Gewinnung von erneuerbaren Energien, zum Beispiel als Bestandteil von Windkraftanlagen. Im Bereich der Mobilität ermöglicht moderne Reifentechnologie treibstoff- und stromeffizientes Fahren. Die Energieeffizienz von Gebäuden lässt sich mit hochwärmeisolierenden Dichtungen aus Kautschuk verbessern. Unsere Innovationen haben aber auch die Langlebigkeit im Blick, die zur Ressourcenschonung beiträgt. An Kautschukkomponenten liegt es jedenfalls meistens nicht, wenn Produkte, in denen sie verbaut sind, das Ende ihrer Nutzungsdauer erreichen. Auch in den anderen Bereichen des nachhaltigen Wirtschaftens hat die Kautschukindustrie in den letzten Jahren große Fortschritte erzielt. Und sie ist weiter auf diesem forschungsintensiven Weg. Das Ranking des Stifterverbands für die Deutsche Wissenschaft zeigt, dass die Kautschukindustrie zu den zehn Wirtschaftszweigen des verarbeitenden Gewerbes zählt, welche – bemessen am Umsatz – die höchsten Forschungs- und Entwicklungsausgaben leisten. Leider wird die staatliche Förderung für grundlagen- und anwendungsorientierte Forschung, auf der die Industrie aufbauen kann, immer mehr reduziert. Das hemmt nicht nur die Innovationskraft und die weiteren Schritte zu nachhaltigem Wirtschaften der Kautschukbranche. Sondern das gefährdet die gesamtgesellschaftliche Transformation zur sozialökologischen Marktwirtschaft und das Überleben des Industriestandorts Deutschland.

 

Hat sich die Geschwindigkeit zum Erreichen des Zieles durch die derzeit vorhandenen multiplen Krisen verlangsamt?

Engelhardt: Die Corona-Pandemie, der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und die dadurch ausgelöste Energiekrise forderten und fordern unsere Branche immens heraus. Ungeachtet dessen sehen sich die Unternehmen mit immer mehr gesetzlichen Anforderungen konfrontiert. Zu nennen sind hier zum Beispiel das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz und die Beschränkung des Einsatzes von immer mehr Chemikalien, auf die unsere Branche dringend angewiesen ist. All das bindet viel Personal und Mittel in den Unternehmen, die dann bei der nachhaltigen Entwicklung fehlen. Andererseits wirkt zum Beispiel die Energiekrise als Beschleuniger bei der Steigerung der Energieeffizienz. Von einer Verlangsamung auf dem Weg zum nachhaltigen Wirtschaften kann also keine Rede sein. Es handelt sich vielmehr um eine Verschiebung der Schwerpunkte in diesem vielschichtigen Komplex.

Automobil- und Bauindustrie sind wichtige Abnehmer von Elastomer-Erzeugnissen. Beide Branchen verzeichnen derzeit kein Wachstum. Ist dies bereits in der Kautschukindustrie zu spüren?

Engelhardt: Derzeit sichert der Auftragsbestand vielen Unternehmen der deutschen Kautschukindustrie die Auslastung der Kapazitäten. Von Seiten des Auftragseingangs sind die Impulse dagegen überwiegend verhalten. Das gilt insbesondere für Aufträge aus der Bauindustrie und in den Produktsegmenten, hinter denen letztlich Endverbraucher stehen. Die Inlandsaufträge sind seit Jahresbeginn 2023 rückläufig. Auch die Auslandsaufträge schneiden nicht viel besser ab. Ein Drittel der Branche meldet rückläufige Nachfrage. Dazu kommen Produktionsbehinderungen. Fast 60 Prozent unserer Mitglieder beklagen aktuell fehlende Vorleistungen. Und fast 50 Prozent der Unternehmen fehlen qualifizierte Mitarbeiter. Die hohen Inflationsraten belasten insbesondere die Konsum- und Baukonjunktur durch sinkende Kaufkraft und erheblich gestiegene Finanzierungskosten. In der Automobilindustrie sieht der Vorjahresvergleich zwar besser aus, insgesamt ist das Absatzvolumen für die Zulieferer aus der deutschen
Kautschukindustrie aber im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit massiv gesunken und bleibt auf einem niedrigen Niveau. Damit sind die unternehmerischen Möglichkeiten, die weiterhin extrem hohen Kostenbelastungen durch einen konjunkturellen Aufschwung kompensieren zu können, beschränkt.

Das drohende Verbot von PFAS


Das drohende Verbot von PFAS (per- und polyfluorierte Alkylsubstanzen) versetzt die Branche in Schrecken. Welche Auswirkungen hätte dieses – auf die Kautschukindustrie, aber auch auf die dahinter liegenden Teile der Wertschöpfungskette?

Engelhardt: Ein umgehendes Verbot von Fluorkautschuk führt zu einem Zusammenbruch von Wertschöpfungsketten. Ohne entsprechende Übergangszeiten für die Verwendung der Polymere und die daraus hergestellten Produkte stehen viele Industrien vor einem nahezu unlösbaren Problem. Wir sprechen bei Fluorkautschuken bekanntlich über sehr hochwertige Polymere mit besonderen Eigenschaften wie Flammwidrigkeit, Hitzebeständigkeit, chemische Beständigkeit,
geringe Gaspermeabilität und Alterungsbeständigkeit. Diese Eigenschaften lassen sich nicht über Nacht ersetzen.

Ließe sich aus Ihrer Sicht beispielsweise ein Fluorelastomer adäquat durch ein anderes Elastomer ersetzen?

Engelhardt: Nein, eine Eins-zu-Eins Substitution eines FKM durch ein anderes Kautschukpolymer ist unserer Ansicht nach derzeit nicht umsetzbar. Die Verwendung eines anderen Hochleistungskautschuks würde nach jetzigem Stand der Dinge zu deutlichen Performanceeinbußen der Produkteigenschaften von derzeit mit FKM hergestellten Artikeln führen. Wir haben jedoch größtes Vertrauen in die Innovationskraft der Kautschukindustrie und erwarten, dass durch Änderung des Produktdesigns und mit weiterentwickelten Polymeren, sicherlich FKM-„ähnliche“ Artikel produzierbar werden können. Das geht aber nicht von heute auf morgen. Deshalb benötigen wir hier entsprechende Übergangszeiten von mehreren Jahren. Inwiefern die Substitution von FKM durch andere Polymere dann aber zu kürzeren Lebenszyklen der Produkte und einem erhöhten Verbrauch an Ressourcen führen wird, ist derzeit noch nicht absehbar.

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Herr Engelhardt, wie ist vor dem Hintergrund der bereits angesprochenen multiplen Krisen Ihr Ausblick für das Jahr 2023 für die Kautschukindustrie?

Engelhardt: Erst einmal hat die Branche die vielen Krisen der letzten vier Jahre mit viel Einsatz relativ gut überstanden. Darüber freue ich mich ganz besonders. Und ich habe höchsten Respekt für die Leistungen von jeder und jedem Beteiligten aus unserer Branche. Sicherlich sind die Aussichten für 2023 ungewiss. Immer noch belasten viele produktionsseitige Hemmnisse die Unternehmen. Die Kosten sind weiterhin sehr hoch. Dazu kommen Fragezeichen bei der Geschäftsentwicklung. Im 1. Quartal 2023 verläuft die Branchenkonjunktur bisher sehr moderat. Die Unternehmen leben vom Auftragsbestand. Für die meisten Unternehmen der Branche ist das Thema Energie im Jahr 2023 nach wie vor die größte unternehmerische Herausforderung. Nicht minder herausfordernd sehen wir und unsere Netzwerkpartner die Lieferketten, die Nachfrageentwicklung sowie die Rekrutierung von Personal. Unser größtes Augenmerk gilt aktuell dem gemeinsamen Standort Deutschland sowie Europa. Die Wettbewerbsposition deutscher Unternehmen hat sich im internationalen Vergleich weiter verschlechtert. Das betrifft die preisliche Konkurrenzsituation, liegt aber auch an hohen Arbeitskosten und einer hohen Unternehmensbesteuerung. Speziell für die Kautschukindustrie kommen dann noch die europäischen Gesetzesvorhaben im Rahmen des „Green Deal“ dazu. Insbesondere die Chemikalienstrategie der EU-Kommission. Die in diesem Kontext erzwungenen Paradigmenwechsel übersteigen das für unsere Branche am Standort Machbare. Ja, wir sind standorttreu, innovationsfreudig und entwicklungsstark. Wenn man uns und alle anderen Industriezweige aber weiter so staatlich überreguliert, so müssen wir uns verändern. Insbesondere in der Frage des Standortes. Zwar rechnen wir im laufenden Jahr bei aller Vorsicht und aller Unabsehbarkeit weiterer Disruptionen mit einer leichten Erholung des Branchenumsatzes. Aber lassen Sie sich von etwa zwei Prozent Plus nicht täuschen! Bestimmend für Umsatzwachstum sind und bleiben massive Kostensteigerungen auf Produktionsseite und in vorgelagerten Lieferketten. Wir sind nach wie vor weit von jedem Vorkrisenniveau entfernt. Dennoch: Hurra, wir, die Mitglieder des Kautschukindustrienetzwerks leben noch. Und wir haben nicht vor, daran etwas zu ändern. Wir sind ja bekanntermaßen zäh sowie maximal flexibel. Wie unser Werkstoff. Also: lassen Sie sich von uns positiv überraschen!

Die Fragen stellte Simone Fischer, verantwortliche Redakteurin KGK und PLASTVERARBEITER.

Quelle: wdk

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