Über 200 Jahre ist die Entwicklung des ersten Fahrrades alt. Auch wenn dieses Gefährt mit dem heutigen nicht mehr so viel gemein hat, so hat das Fahrrad in den letzten Jahren dank des E-Bike-Booms eine Erfolgsgeschichte sondergleichen geschrieben. Allein in Deutschland wurden 2021 etwa 4,7 Mio. Fahrräder verkauft – davon 2 Mio. E-Bikes. Das Verhältnis zum Fahrrad, vor allem auch im urbanen Bereich, hat sich verändert. Durch die Integration von Akku und Motor kombiniert mit einer schönen Formensprache, werden E-Bike-Rahmen immer komplexer und dementsprechend auch kostenintensiver in der Herstellung. Auch Lastenfahrräder sind aufgrund von Weiterentwicklungen sowohl im privaten als auch im gewerblichen Bereich immer stärker verbreitet. Um diesbezüglich nur ein interessantes Beispiel zu nennen: 1907 wurde UPS in Seattle von zwei Teenagern und einem Fahrrad gegründet. Heute sieht man, verstärkt im städtischen Umfeld, UPS-Zusteller wieder mit Lastenfahrrädern Lieferungen zustellen. Auch bei der deutschen Post erfolgt schon seit Jahren die Briefzustellung in vielen Bereichen mit Lastenrädern. Generell ist der Markt stark im Wandel. Fahrradrahmen für den Massenmarkt werden gewöhnlich aus Aluminium hergestellt. Das zunehmende gesellschaftliche Bewusstsein für nachhaltige Produkte mit reduziertem Energieverbrauch in Produktion, Logistik und Betrieb hat zu Versuchen geführt, Produkte der Zukunft neu zu bewerten, um ihre Effizienz zu verbessern [1]. Um all das zu erreichen, ist es notwendig die Produktion aus Fernost zumindest teilweise wieder nach Europa zurück zu verlagern. Produktionsstandort, Herstellungsverfahren, Material und Einsatz sind in Kombination verantwortlich für den Erfolg. So ermöglicht das Spritzgießen von kurzfaserverstärkten Thermoplasten das Herstellen von Strukturbauteilen in zahlreichen Branchen und Anwendungen einschließlich Mikromobilität, wie E-Bikes und E-Scooter.
Mit Simulationen lassen sich die Fahrradrahmen spritzgussgerecht auslegen. Durch diese digitalen Produktentwicklungsmethoden können auch komplexe Prozesse berechnet und dargestellt werden, um die Entwickler zu unterstützen. Und das alles zu einem Zeitpunkt an dem noch kein einziger Span gefallen ist.
Mit Wasser die Materialseele verdrängen
Der vorgestellte Fahrradrahmen wird aus Polyamid 6 mit 40 % Kurzcarbonfaseranteil (Akroloy PA CF VFrame) hergestellt. Um die Rohrstruktur für die Torsionssteifigkeit des Rahmens zu ermöglichen, wird das wasserunterstützte Spritzgussverfahren (WAIM) verwendet. Hierbei handelt es sich um einen zweiphasigen Prozess. Das bedeutet am Beispiel des Fahrradrahmens, dass zuerst die Formteilkavität wie im herkömmlichen Spritzgießprozess vollständig gefüllt wird. Während dieser Füllung bleiben die Überlaufkavitäten und Wasserinjektoren geschlossen. Nach der Füllung werden die Überlaufkavitäten und die Wasserinjektoren geöffnet. Das einströmende Wasser drückt den noch flüssigen Schmelzekern in dieser zweiten Phase in die nun offenen Überlaufkavitäten. Es wird ein Hohlraum im Formteil erzeugt, der abschließend noch trocken geblasen wird. Ziel ist es diesen Hohlraum bereits in der Entwicklungsphase möglichst exakt zu definieren. Zusätzlich zu der Füllung des Polymers und des Wassers muss auch die Orientierung und Verteilung der Fasern im Polymer berücksichtig werden. Die Rahmensteifigkeit und die Fahrperformance hängen sehr stark von der Restwandstärke, der Faserorientierung, den Bindenähten und deren Verteilung entlang der Struktur ab. An dieser Stelle wird bereits klar, dass die Füllsimulationsergebnisse in der Produktentwicklung berücksichtigt werden müssen. Für die Simulation des WAIM-Prozesses hat Plastic Innovation aus dem österreichischen Ottensheim Moldex-3D eingesetzt. Um das strukturviskose Verhalten des Kunststoffes und den komplexen WAIM-Prozess sauber simulieren zu können, ist eine gute Auflösung an der Randschicht notwendig. Nur so kann der Einfluss der Schergeschwindigkeit auf den Druckverlauf und die Temperaturverteilung während des Füllvorganges genau vorhergesagt werden. Gleichzeitig muss auch die Vernetzung im Kern für den Wasserkanal noch ausreichend genau sein. Für diesen Zweck wurde das Boundary Layer Mesh (BLM) entwickelt. Qualitativ hochwertige Berechnungsnetze lassen sich einfach und zuverlässig generieren. Der Formaufbau und die Kühlkanäle wurden mit dem Assistenten von Moldex-3D generiert. Auf diese Weise lässt sich das Werkzeug bereits in einer sehr frühen Entwicklungsphase mit in die Simulation aufnehmen und kann später in die Konstruktion übernommen werden.
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Simulation und Messwerte im Vergleich
Ein wichtiges Beurteilungskriterium, dass die Simulation in der Lage ist die Wandstärkenverteilung präzise vorherzusagen, ist die Restwandstärke. Aus diesem Grund wurde im Nachgang eine Vergleichsstudie durchgeführt. An zwei Positionen des Unterrohrs (siehe Bild 1a) wurde der Querschnitt an jeweils 4 Stellen gemessen und mit der Simulation verglichen. Die Mittelwerte und ihre Standardabweichungen sowie der Vergleich zur Simulation sind in Bild 2 dargestellt. Im Allgemeinen ist ein ähnlicher Trend der Daten von den Messpositionen 1 bis 4 zu beobachten. Die berechneten Wandstärken in der Simulation sind gut vergleichbar mit den gemessenen. Diese Erkenntnis ist wichtig für weitere Entwicklungen, da dies bedeutet, dass keine weiteren Sicherheitsfaktoren für die Schwankungsbreite berücksichtigt werden müssen. Aufgrund der Prozesssimulation mittels Moldex-3D konnten mögliche Verarbeitungsinstabilitäten sowie Defekte wie Bindenähte, Wasserfingerbildung, Wandstärkenverteilung und Faserorientierungsverteilung erkannt und behoben werden. Basierend auf diesen Ergebnissen wurde eine Finite-Elemente-Analysen (FEA) durchgeführt. Der simulierte Wasserkanal wurde hierfür als STL-Datei exportiert und in die FEA importiert. Auch bei anderen Produkten ist es empfehlenswert, diese Informationen in die FEA mitzunehmen, um nicht unnötig große Sicherheitsfaktoren einbauen zu müssen. Sicherheitsfaktoren bedeuten immer, dass ein Produkt größer ausgelegt werden muss, als es für den Einsatzzweck notwendig gewesen wäre. Damit wird nicht nur mehr Material benötigt, sondern auch gleichzeitig prozessbedingt die Zykluszeit unnötig erhöht. Werden die Ergebnisse aus der Prozesssimulation in die Strukturmechanik mitgenommen so handelt es sich um eine „integrativen Simulation“. Bei der Entwicklung des Fahrradrahmens ist Plastic Innovation sogar noch einen Schritt weitergegangen und entschied sich für einen „ganzheitlichen“ Polymer-Produktentwicklungsansatz. Neben der integrativen Simulation wurden dafür zusätzlich die Werkzeugkonstruktion und Automatisierung mitberücksichtigt. Die Automatisierung wurde für konstante, effiziente Taktzeiten gewünscht und umfasste die Übergabe des entformten Rahmens von der Spritzgießmaschine auf das Transportband sowie das Greifen und das Einsetzen des Steuerrohrinserts aus Aluminium vor dem Schließen des Spritzgusswerkzeugs beim Produzenten, V Frames, Schmiedefeld. Das CAD-Rahmenmodell wurde mit Hilfe der Simulation so lange optimiert, bis die Funktionalität des Fahrradrahmens sowie die Anforderungen an Festigkeit und Steifigkeit erfüllt waren. Für die FEA wurde die Prüfung in Anlehnung an EN 15194:2018-11 (Fahrräder – elektromotorisch unterstützte Räder – EPAC) nachgestellt. Diese Prüfung wurde nach der abgeschlossenen Entwicklung auch am fertigen Fahrradrahmen durchgeführt. Um die Prüfung zu bestehen, darf der Fahrradrahmen nach mehreren zyklischen Belastungen nicht brechen. Der Lastfall setzt sich zusammen aus einem Tretmoment von 213 Nm, einer Sitzbelastung von 1.250 N und vertikale sowie horizontale Belastungen auf beiden Seiten des Dummy-Lenkers mit 300 N beziehungsweise 205 N auf jeder Seite. Der Rahmen ist hierfür an zwei Positionen fixiert, zum einen an der hinteren Achse, zum anderen wurde die Dummy-Gabel sowohl in vertikaler als auch in seitlicher Richtung befestigt, wodurch die Drehung sowie die axiale Verschiebung uneingeschränkt bleiben.
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Versagen vorhersagen
Für die FEA wurde die Software Marc eingesetzt, die für nichtlineare Systeme, wie den Fahrradrahmen aber auch bei allen anderen Kunststoffprodukten, entwickelt wurde. Um die Lücke zwischen Herstellungsprozess und Strukturmechanik zu schließen, kommt die multiskalare Materialmodellierung inklusive Schnittstelle zur FEA mit Digimat zum Einsatz. Mit dieser Material-Modellierungstechnologie kann das komplexe anisotrope Materialverhalten samt Versagen sowie Schädigung berechnet werden. Damit Digimat das realitätsnahe Materialverhalten berechnen kann, reichen einfache, standardisierte Materialmessungen aus, um diese auf das komplexe Bauteil zu übertragen. Digimat und der FE-Solver kommunizieren miteinander und tauschen Material- als auch Belastungssituationen miteinander aus. So ist es möglich, die prozessbedingten Eigenschaften, wie Faserorientierung, Bindenähte und Eigenspannungen, in der Berechnung zu berücksichtigen. Um die Auswertung und Interpretation der Ergebnisse zu erleichtern, bietet die Software weitere Ergebnisplots an. Damit kann das anisotrope Materialverhalten in Form von Indikationen und Auslastungsgraden dargestellt werden. Somit konnte in der Simulation richtig vorhergesagt werden, dass der Fahrradrahmen die Prüfung nach EN 15194:2018-11 bestehen wird. Zusätzlich konnte auch das Bauteilverhalten in Bezug auf das komplexe Materialverhalten im Detail betrachtet werden. Die Betrachtung der Spannungsverteilung mittels Von-Mises-Vergleichsspannungen ist eine gängige Methode zum Beurteilen, ist aufgrund der Anisotropie jedoch nur bedingt anwendbar. Für den Fahrradrahmen ist zu sehen, dass die Spannungen im nicht kritischen Bereich liegen. Wird dieses Ergebnis zusätzlich mit weiteren Ergebnisplots, die die Software bietet, verglichen, so wird eine umfangreiche und bessere Beurteilung über den Fahrradrahmen möglich und es können realitätsgetreue Aussagen getroffen werden. Anhand des Auslastungsgrads der maximalen Steifigkeit (Bild 4) können die kritischen Bereiche schnell und einfach ersichtlich ermittelt werden. Bei einem Auslastungsgrad über 1 tritt ein Versagen auf. Alle Bereiche unter 1 weisen eine entsprechende Sicherheit auf.
Die Belastungszustände kennen
Auch der Auslastungsrad der Faser in Bezug auf deren Orientierung stellt eine wesentliche Hilfe dar, um besser einschätzen zu können, ob es in gewissen Bereich notwendig ist, die Faserorientierung zu verbessern. Um den Einfluss der Bindenähte zu beurteilen, werden Knockdown-Faktoren in der Simulation berücksichtigt. Je nachdem, welche Eigenschaften die Bindenaht hat, verringert diese die lokal zulässige Belastung. Für die Fragestellung der Wirkung des Belastungsfalls auf die lokale Materialbeanspruchung hilft das Ergebnis der Triaxialität weiter, sodass direkt zwischen Zug-, Druck-, Scher- wie auch biaxialer Belastungszustände unterschieden werden kann. All diese Ergebnisse erleichtern es, das Bauteil so auszulegen, dass es den Belastungen standhält aber dennoch so leicht wie möglich sein kann. Die Materialsubstitution von Metallen zu Thermoplasten eröffnet auch neue Recyclingstrategien. Die beste Strategie besteht darin, rezyklierte Materialien für Strukturkomponenten statt für Nichtstrukturkomponenten oder andere Zwecke wie Deponierung oder thermische Verwertung einzusetzen. Für den Fahrradrahmen wurde ebenfalls eine vergleichende Umweltbilanz (LCA) durchgeführt. Dabei wurde verglichen, inwieweit sich der Wechsel von Aluminium 6061 T6 zu Polyamid verstärkt mit rezyklierten Kurzcarbonfasern auswirkt. Für die Bilanz wurde nach der CML2001-Aug.2016-Methode vorgegangen. Die Charakterisierung und Normalisierung der Wirkkategorien wurden mit der Software Gabits 10.6. am Energieinstitut der Johannes-Kepler-Universität Linz durchgeführt. Für den Vergleich wurde eine Funktionseinheit (vergleichende Menge, 36 Fahrradrahmen) definiert. Bewertet wurden Rohstoffbeschaffung, Produktion bis zum Transport nach Deutschland (Cradle-to-gate Systemgrenze). Voraussetzung dabei war, dass die Fahrradrahmen mit äquivalenten Struktureigenschaften aus beiden Materialien hergestellt werden können.
Bei dieser Analyse ergab das Treib-hausgaspotential (GWP 100 Jahre), dass die CO2-Äquivalente (CO2e) pro Funktionseinheit von Aluminiumrahmen bei 1.604,64 kg CO2e und von Polyamid bei 444,4 kg CO2e liegen. Dies bedeutet, dass mit dem Fahrradrahmen aus Polyamid mit recycelten Carbonfasern eine CO2-Reduktion von rund 70 % möglich ist.
Nachdem die Entwicklung abgeschlossen war, wurde das Spritzgießwerkzeug hergestellt und Produktionsversuche durchgeführt. Es hat sich gezeigt, dass dieses für Fahrradrahmen neuartige Verfahren erfolgreich ist. Rahmen mit ähnlicher Steifigkeit und Masse eines äquivalenten Aluminiumrahmens wurden strukturell so optimiert, dass sie massentauglich und gleichzeitig energieeffizient und nachhaltig hergestellt werden können.
Dank
Die Autoren danken den Unternehmen – Akro-Plastic, Coleo Design, Engel Austria und V Frames – für die Unterstützung.
Literatur
[1] Stelzer, P. S.; Cakmak, U.; Eisner, L.; Doppelbauer, L.; Kállai, I.; Schweizer, G.; Prammer,
H. K.; Major, Z.: Experimental feasibility and environmental impacts of compression molded carbon fiber composites with opportunities for circular economy. Composites Part B (2021), submitted, revised, under review.
Quelle: Simpatec
Quelle: Plastic Innovation
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