Normen werden von übergeordneten nationalen, staatlichen oder internationalen Gremien erstellt. Sie definieren Verfahren, Abläufe und Eigenschaften bestimmter Systeme und Werkstoffe. Die meisten Normen im Elastomerbereich befassen sich mit Prüfverfahren. Normen beruhen auf anerkannten Regeln der Technik. Sie dienen einer Vereinfachung durch Standardisierung, sie schaffen Qualitätsstandards und werden in langwierigen Verhandlungen in einem Konsensverfahren erstellt.
Spezifikationen werden in der Regel von Firmen, Verbänden oder Organisationen herausgegeben und schreiben bestimmte Eigenschaften (Vorgabe von Sollwerten) eines Produktes vor. Sie werden meist Teil eines Vertrages, wenn Produkte nach ihren Vorgaben bestellt werden.
Was regeln Prüfnormen?
In Prüfnormen oder -standards [1] werden bestimmte Prüfverfahren wie Zugversuch, Druckverformungsrestprüfung genau beschrieben und geregelt. Dies umfasst alle Bereiche von der Herstellung der Probekörper, über deren Konditionierung, die Prüfungsdurchführung bis zur Berechnung und Auswertung der Prüfergebnisse. Nach mehreren Jahren werden Normen überarbeitet und neu herausgegeben.
Bis in die 1990er Jahre waren im Elastomerbereich nationale Normen die am häufigsten eingesetzten: in West-Deutschland die DIN-Normen, in der DDR die TGLs, in Großbritannien der BS (British Standard), in der Sowjetunion und Russland die GOST-Normen und in den USA die ASTM-Normen.
Inzwischen werden für Elastomerprüfungen vornehmlich internationale ISO-Normen herangezogen. Diese sind meist auf Englisch, deutsche Übersetzungen werden als DIN ISO-Normen (mit der gleichen Nummer, aber anderes Ausgabedatum) bezeichnet. Die Internationale Organisation für Normung (englisch International Organization for Standardization, Kurzbezeichnung ISO von griechisch „isos“ = gleich) wurde 1946 gegründet und begann 1947 ihre Arbeit. Die Fachgruppe ISO TC45 für Gummi und Gummiprodukte wurde 1947 gegründet und kam zum ersten Mal 1948 in London zusammen. Langwierige Abstimmungsprozesse führten dazu, dass erst im Jahr 1957 die ersten ISO Recommendations, der damaligen Bezeichnung für die heutigen ISO Standards, herausgegeben wurden. [2] Bis auf wenige Ausnahmen wurden bis circa 1980 alle wichtigen Prüfmethoden für Elastomere durch die ISO standardisiert. [3]
In den USA werden ISO Normen relativ selten angewendet, dort wird das Prüfwesen von ASTM-Standards dominiert. Diese stimmen in vielen Punkten mit ISO-Normen überein. Die kleineren Abweichungen oder eigene Prüfverfahren sind meist der jeweils eigenen historischen Entwicklung geschuldet. So wird beispielsweise bei der Druckverformungsrestprüfung in der ASTM D395 neben der Variante des Druckverformungsrestes (DVR) mit konstantem Verformungsweg auch die des DVR mit konstanter Verformungskraft beschrieben. Letztere Variante ist in Europa nicht üblich und ist auch in der entsprechenden ISO 815-1 nicht aufgeführt.
Werden Sie Teil unseres Netzwerkes bei LinkedIn
KGK Kautschuk Gummi Kunststoffe - International Journal for Rubber and Polymer Materials sowie aktuelle Informationen – News, Trend- und Fachberichte – für Kautschuk- und Kunststoffverarbeiter. Folgen Sie unserem LinkedIn.
Werkstoffnormen – ein schwieriges Unterfangen
Es wurden und werden immer wieder Versuche unternommen auf Normungsebene Werkstoffe zu spezifizieren. Eines der prominentesten Beispiele ist das US-amerikanische Klassifizierungssystem ASTM D2000. [4] Ein Konstrukteur kann mit diesem System einen „line call-out“ erstellen. Mit Hilfe von Buchstaben und Zahlen kann er so die Eigenschaften eines elastomeren Werkstoffes definieren, wie zum Beispiel Härte, Festigkeit, Quell- und Hitzebeständigkeit. Ein Dichtungshersteller muss diesen Code wieder auflösen, um einen Werkstoff zu finden beziehungsweise zu entwickeln, der diese Vorgaben erfüllt. Dieses System hat sich in Europa nicht durchgesetzt, da es einige Nachteile aufweist: Ein Konstrukteur muss ein sehr tiefes Gummifachwissen besitzen, um nicht zwingend notwendige Eigenschaften zu fordern, die zu einem starken Kostenanstieg führen würden. Durch die vielen Spezifikationsvarianten wird das allgemeine Ziel die Anzahl von Mischungen zu reduzieren, konterkariert. Kritisch werden auch zu große Toleranzbereiche bei der Quellung gesehen. Zur Klassifizierung der Hitze- und Quellbeständigkeit werden Kurzzeitprüfungen herangezogen, welche keine ausreichende Aussage über das Langzeitverhalten liefern. [5]
Ein ISO-Versuch (ISO 4632-1) eines Klassifizierungssystems für Elastomere basierte mit kleineren Abweichungen auf dem ASTM D 2000-System und wurde im August 1982 herausgegeben. Jedoch wurde diese Norm im Januar 2001 ersatzlos zurückgezogen. Ein deutscher Versuch war die DIN 78078 (Ausgabe: 1986-08), die sich an der ISO 4632-1 orientierte. Diese Norm wurde ebenso zurückgezogen. [6]
Ein wegweisender Ansatz im Bereich einer Werkstoffnorm ist die ISO 3601-5 [7], welche Vorgabewerte für wichtige Parameter von O-Ring Werkstoffen gibt. Außerdem werden auch Sollwerte für fertige Dichtungen (O-Ringe) angegeben. Setzt ein Konstrukteur O-Ringe nach dieser Norm ein, kann er sicher sein, einen guten Stand der Technik zu bekommen, sowohl was die Rezepturqualität (Sollwerte für die Materialien) als auch was die Verarbeitungsqualität (Sollwerte am fertigen Erzeugnis O-Ring) angeht. Diese Werte lassen sich teilweise auch auf andere Dichtungsgeometrien übertragen. Im Gegensatz zum ASTM D 2000-System muss sich ein Konstrukteur nicht tief in die Thematik einarbeiten, sondern bekommt bei Bestellung nach dieser Norm gute bis sehr gute Dichtungswerkstoffe geliefert. Hat er eine ganz spezielle Anforderung, kann er dies abweichend beziehungsweise ergänzend in der Zeichnung in Textform vermerken. Somit bleiben die Änderungen für jedermann einfach nachvollziehbar.
Werkstoffspezifikationen sind präziser als die Angabe „Gummi, schwarz“
Werkstoffspezifikationen werden in der Regel von den Anwendern von Dichtungen oder sonstigen Elastomerbauteilen erstellt. Während mitunter noch in den 1950er Jahren Materialspezifikationen wie „Gummi, schwarz“ auf der Zeichnung anzutreffen waren, ist eine so geringe Werkstoffspezifikation heute undenkbar. Wegen immer höherer chemischer und thermischer Anforderungen an den Werkstoff, einer stetig zunehmenden Mischungsvielfalt und wegen neuer Einsatzfelder, ist es nicht mehr sinnvoll und teilweise unmöglich, dass ein Konstrukteur die Materialanforderungen als Zeichnungstext angibt. Deswegen wird in großen Unternehmen die Materialspezifikation in Fachabteilungen erstellt und firmenweit in Hausnormen oder Liefervorschriften festgelegt. „Bei der Aufstellung von Werkstoffspezifikationen ist es unbedingt erforderlich, nur die tatsächlich herrschenden Einsatzbedingungen anzugeben. Schraubt man eine Anforderung unnötig hoch, muss man unter Umständen Einbußen an anderer, vielleicht wichtigerer Stelle in Kauf nehmen. (…) Es gibt eine Reihe von Eigenschaften, die miteinander verknüpft sind. (…) So ist es zum Beispiel nicht möglich, sehr geringen Druckverformungsrest und sehr hohe Weiterreißfestigkeit in einem Werkstoff zu vereinen.“ [8]
Besonders wegweisend für die Werkstoffspezifikation sind seit Jahrzehnten die Luftfahrt- und Automobilindustrie, deren Spezifikationssysteme durch praktische Anwendungserfahrung – mitunter in neuen Grenzbereichen – immer ausgefeilter wurden.
Exemplarisch werden im Folgenden drei Ansätze von Werkstoffspezifikationen aus dem Automobilbereich beschrieben, die auch als Mischformen auftreten können:
- „Best in class“-Ansatz:
Bei diesem System lässt sich die Werkstoffabteilung Muster neuentwickelter Gummicompounds verschiedener potenter Lieferanten vorstellen. Diese werden vergleichend untersucht und die Spezifikation wird um den oder die besten Werkstoffe herum geschrieben. Die Fachabteilung weist dann dieser neuen spezifizierten Type in der Hausnorm einen Anwendungsbereich zu. In der Regel haben Neuentwicklungen bessere Eigenschaften als die Vorgängermischungen. Werden aber Neuentwicklungen durch Umweltvorgaben (zum Beispiel bleifreies ECO) notwendig, die ein reduziertes Eigenschaftsbild ergeben, müssen diese neuen Mischungen noch in den jeweiligen bisherigen Anwendungen erprobt werden.
Mit diesem System stellt die Werkstoffabteilung sicher, dass Konstrukteure die besten Werkstoffe auf dem Markt erhalten. Außerdem lässt sich so die Anzahl der spezifizierten Werkstoffe relativ gering halten, da man mit den besten Werkstoffen große Anwendungsbereiche abdecken kann. Nachteil dieses Systems ist der Einsatz von sehr hochwertigen und kostenintensiven Werkstoffen auch in Bereichen, welche einen solchen Qualitätsstandard gar nicht benötigen. Diese Art der Spezifizierung erfordert oft aufwendige interne Freigabeverfahren, sodass dieses System meist auch träge ist und nicht besonders schnell auf aktuelle Forderungen reagieren kann. Allerdings wird die Flexibilität dieses Systems wesentlich höher, sofern prinzipiell die Bereitschaft da ist, anwendungsbezogen abzuwägen, wo Abweichungen zulässig sind.
Fachspezifisch informiert mit dem KGK-Contentletter
Aktuelle Nachrichten, spannende Anwenderberichte und branchenrelevante Produktinformationen sowie wissenschaftliche Veröffentlichungen erhalten Sie mit dem KGK-Contentletter einmal monatlich kostenfrei direkt in Ihr Postfach.
- Flexibles Tabellensystem:
Dieser Ansatz zeichnet sich durch eine Spezifikation aus, welche einen Rahmen vorgibt und die durch eine kontinuierlich erweiterte Tabelle ergänzt wird. Die Rahmenspezifikation folgt den üblichen aufwendigen firmeninternen Freigabeprozeduren, während die Freigabetabelle mit ähnlichen Werkstoffprofilen für dieselbe Anwendung erweitert werden kann.
So können Werkstoffe passgenau für bestimmte Anwendungen schnell und gut nachvollziehbar zugeschnitten werden. In der Spezifizierung und Erprobung liegt hier ein größerer Aufwand und größeres Risiko als im oben beschriebenen System, aber es ist individueller, flexibler, schneller und meist kosteneffizienter. Nachteilig ist aber eine Zunahme von spezifizierten Werkstofftypen, wenn die herausgebende Fachabteilung nicht regelmäßig Spezifikationen aussortiert oder zusammenfasst.
- Edukatives System („Hilfe zur Selbsthilfe“):
Durch Globalisierung, Fusionen und Kooperationen entstehen immer größere Automobilhersteller. Während früher einige Firmenphilosophien auf das Subsidiaritätsprinzip setzten, das heißt zugekaufte Firmen lösen Werkstofffragen weiterhin soweit wie möglich selbst, geht heute der Trend zur Zentralisierung. Um Kosten einzusparen werden viele Fachabteilungen zugekaufter Unternehmen geschlossen und die Lösungen werden von der Fachabteilung der Konzernmutter vorgegeben. Trotz moderner Kommunikationsmöglichkeiten nimmt auf Grund der Größe fusionierter Unternehmen der Austausch zwischen Konstrukteur und Werkstofffachabteilung ab. Hier ist ein Trend hin zu erklärenden Spezifikationen erkennbar. Der Konstrukteur bekommt zum Beispiel in übersichtlichen Schaubildern nähere Informationen zu Zusammenhängen. So kann er beispielsweise einen passenden FKM anhand von seiner benötigten Kälte-flexibilität und der maximal zulässigen Volumenquellung in Medien auswählen. Er erhält mit dem Schaubild dann Aussagen über die geeignete Polymerart, den Fluorgehalt und das Vernetzungssystem.
Die Möglichkeiten an Dichtungslösungen nehmen immer mehr zu und werden für einen normalen Konstrukteur eigentlich unüberschaubar. Auf der anderen Seite sollte er nicht veraltete Dichtungslösungen einsetzen, eben nur, weil er diese kennt oder sich auf die Expertise eines einzelnen Lieferanten verlassen muss, der seine bereits bestehenden Lösungen verkaufen möchte. Deswegen ist das Thema Weiterbildung im Bereich Elastomer- und Dichtungsfachwissen sehr empfehlenswert. Dieser edukative Spezifikationsansatz macht einen Schritt in diese Richtung.
Prüfvorschriften im Rahmen von Spezifikationen
In heutigen Werkstoffspezifikationen werden als Prüfverfahren meist ISO-Normen herangezogen. Jedoch gibt es in Sonderfällen oder aus langjährigen Unternehmenstraditionen heraus firmen-eigene Prüfvorschriften (zum Beispiel Prüfvorschriften PV des VW-Konzerns). Aus Gründen der besseren Vergleichbarkeit und des globalen Kostendrucks empfiehlt es sich, wo immer möglich, auf ISO-Standards zu wechseln.
Eine Sonderrolle spielen die Prüfvorschriften des VDA 675 [9]. Hier handelt es sich um Prüfvorschriften eines Branchenverbandes, welche früher (1990er [10] und 2000er Jahre) oft in Werkstoffspezifikationen von Automobil-
zulieferern und -herstellern herangezogen wurden. Bei Standardprüfmethoden werden aber heute meist ISO Standards eingesetzt und Prüfvorschriften der VDA 675 kommen nur noch bei Sondermethoden zum Einsatz.
Ohne Spezifikationen oder den Bezug auf Werkstoffnormen geht es praktisch kaum. Die Pflege und die Anpassung an neue Anforderungen erfordert einen Werkstoffspezialisten. Für viele Anwender reicht es allerdings schon aus, einen allgemeinen Stand der Technik für Dichtungswerkstoffe einzusetzen. Für diese Anwendergruppe wird die ISO 3601-5 empfohlen, also nicht nur O-Ring Anwendern.
Literatur
[1] Weiterführende Informationen zur Entwicklungsgeschichte von Normen: Brown, Roger: 50 Years of Polymer Testing, iSmithers, 2009, S. 57ff.
[2] Vgl. ebd., S. 8.
[3] Vgl. ebd., S. 130.
[4] ASTM D 2000:2018 Standard Classification System for Rubber Products in Automotive Applications.
[5] Vgl. Nagdi, Khairi: Gummi-Werkstoffe Ein Ratgeber für Anwender, Dr. Gupta Verlag, Ratingen, ²2002, S. 365.
[6] Vgl. ebd., S. 368f.
[7] ISO 3601-5, Second Edition 2015-04-01: Fluid power systems — O-rings — Part 5: Suitability of elastomeric materials for industrial applications.
[8] Nagdi, Khairi: Gummi-Werkstoffe Ein Ratgeber für Anwender, Dr. Gupta Verlag, Ratingen, ²2002, S.374.
[9] Bezugsquelle für noch aktuell verwendete VDA-Empfehlungen: VDA-Empfehlungen (alle)-VDA, https://web-shop.vda.de/VDA/de/vda-empfehlungen (abgerufen am 28.09.2023).
[10] Ursprünglich bestand die Richtlinie 67 aus einer Loseblattsammlung aus dem Jahr 1992 mit Ergänzungen in den Folgejahren: https://d-nb.info/95773445X (abgerufen am 28.09.2023).
Quelle: O-Ring Prüflabor Richter