Die neue Mobilität stellt neue Ansprüche an die Reifen.
Herr Hanel, Sie leiten die Materialentwicklung im Pirelli-Konzern, was waren die größten Herausforderungen bei der Entwicklung von Reifen für Elektroautos?
Dr. Thomas Hanel: Im Vergleich zu Modellen mit herkömmlichen Motoren haben Elektro- und Plug-in-Hybridfahrzeuge aufgrund der Batterie ein höheres Gewicht und ein sehr hohes Drehmoment, das sofort zur Verfügung steht. Bei der Wahl geeigneter Reifen für diese Fahrzeuge sind aber noch zwei weitere Faktoren zu berücksichtigen: die Geräuschentwicklung (sowohl innerhalb als auch außerhalb des Fahrgastraums) und die Reichweite der Batterie.
Um die Leistung von E-Automobilen zu optimieren, ohne die Haltbarkeit des Reifens zu beeinträchtigen, hat Pirelli die Elect-Technologie entwickelt. Pirelli Reifen mit der Elect-Technologie bieten etliche Vorteile, angefangen bei der Reichweite einer gegebenen Batteriekapazität. Dank ihres geringen Rollwiderstands können diese Reifen bis zu 50 km mehr Reichweite ermöglichen, wie im Falle des Pirelli Scorpion Elect in der Größe 235/60/R18 gezeigt wurde [1], woraus Einsparungen bei den Ladekosten von bis zu 150 Euro pro Jahr resultieren [2]. Darüber hinaus verfügen die Elect-Reifen aufgrund innovativer Mischungen über mehr Grip, um das hohe Drehmoment von Elektromotoren zu bewältigen sowie über verstärkte Strukturen, um der Belastung von Elektrofahrzeugen standzuhalten. Diese beiden Elemente tragen dazu bei, den Reifenverschleiß um bis zu 20 Prozent zu reduzieren [3]. Die Elect-Technologie bietet zudem einen um bis zu 20 Prozent höheren akustischen Komfort im Fahrzeuginneren [4] und steigert dort die Ruhe, wenn man keinen Verbrennungsmotor fährt.
Welche Aufgaben übernehmen die biobasierten Rohstoffe im Reifen? Nennen Sie bitte 1-2 Beispiele.
Dr. Thomas Hanel: Biobasierte Rohstoffe gewinnen zunehmend an Bedeutung für die Abkehr von fossilbasierten Rohstoffen. Idealerweise generiert man aus Abfall- oder Nebenprodukten der Landwirtschaft oder angegliederten Industrien wertvolle Rohstoffe für einen Einsatz im Reifen. Lignin ist so ein Beispiel. Als Beiprodukt der Zellstoff- und Papierindustrie ist es uns gelungen, daraus einen Füllstoff zu entwickeln, der einen Großteil des Rußes in der jeweiligen Mischung ersetzt bei gleichzeitig verbesserten mechanischen Eigenschaften. Ein weiteres Beispiel sind Reisschalen, ein Abfallprodukt des Reisanbaus. Daraus lässt sich Silica gewinnen, das in Laufflächen-Mischungen verwendet wird, um ein hohes Maß an Performance bei Nässe bei gleichzeitig niedrigem Rollwiderstand zu erzielen. Silica aus der Asche von Reisschalen ist ein nachhaltiger Ersatz für die Standard-Kieselsäure, deren Herstellungsprozess deutlich aufwendiger ist.
Wie nachhaltig sind diese Reifen, sprich wie hoch ist der Anteil biobasierter oder recycelter Rohstoffe?
Dr. Thomas Hanel: Der Pirelli P Zero E enthielt bei seiner Markteinführung im Sommer 2023 mehr als 55 Prozent biobasierte und recycelte Materialien in der gesamten Produktrange. Dies wurde von Bureau Veritas zertifiziert, einem weltweit führenden Unternehmen für Konformitätsprüfungen und Zertifizierungen in den Bereichen Qualität, Umwelt, Gesundheit, Sicherheit und soziale Verantwortung (ISO 14021). Beim neuen Pirelli P Zero Winter 2 sind insgesamt 13 Größen des Sortiments mit der Elect-Technologie ausgestattet. Diese Reifen bestehen zu mehr als 50 Prozent aus biobasierten oder recycelten Materialien, was ebenfalls durch eine unabhängige Zertifizierung belegt ist. Pirelli hat ein spezielles Logo zur Kennzeichnung von Reifen entwickelt, die zu mindestens 50 Prozent aus biobasierten und recycelten Materialien bestehen: Zwei Pfeile in einem Kreis, zu sehen auf der Reifenflanke.
Wie unterschied sich der Reifenentwicklungsprozess zu dem der etablierten Reifen?
Dr. Thomas Hanel: Es gibt keine signifikanten Unterschiede im Entwicklungsprozess. In beiden Fällen nutzen wir die modernen Möglichkeiten der virtuellen Reifenentwicklung in unseren Virtual Development Centern in Mailand und Breuberg unter Einsatz von Künstlicher Intelligenz.
Das Drehmoment ist beim E-Fahrzeug wesentlich höher als beim Verbrenner. Wie wurde dem dadurch generierten höheren Reifenabrieb entgegengewirkt?
Dr. Thomas Hanel: Wie bereits erwähnt, verfügen die Pirelli Elect-Reifen aufgrund innovativer Mischungen über mehr Grip, um das hohe Drehmoment von Elektromotoren zu bewältigen bei gleichzeitig niedrigem Rollwiderstand, sowie über verstärkte Strukturen, um der Belastung von Elektrofahrzeugen standzuhalten. Neben diesen Elementen tragen Optimierungen der Aufstandsfläche und verschleißresistentere Mischungen, auch dank einiger Materialien, die wir in gemeinsamer Entwicklung mit Lieferanten entwickelt haben, zusätzlich zu einer besseren Abriebleistung bei.
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Neben Ihrer Position bei Pirelli, haben Sie zum 1. Juli 2024 von Dr. H.-Martin Issel den Vorstandsvorsitz der Deutschen Kautschuk-Gesellschaft DKG übernommen.
Welche Themen werden Sie in der DKG verfolgen? Und wie blicken Sie auf die Entwicklung der europäischen Kautschukindustrie in den kommenden fünf Jahren?
Dr. Thomas Hanel: Die Kautschukindustrie hat in Deutschland eine lange Historie und beschäftigt sich mit einem der faszinierendsten Materialien überhaupt. Für die nähere Zukunft sehe ich drei große Herausforderungen, die uns alle betreffen und die eine starke DKG erfordern:
- Transformation hin zu nachhaltigen Materialien, nachhaltigen technischen Lösungen und Prozessen. Dies erfordert das Zusammenspiel aller Akteure, da sie die gesamte Wertschöpfungskette von der Rohstoffherstellung bis hin zur möglichen Regeneration von Materialen aus Produkten am Ende ihres Lebenszyklus umfasst. Die DKG ist hier von ihrer Grundidee der perfekte Match für die Herausforderung – wir müssen uns immer daran erinnern und die Zusammenarbeit der unterschiedlichsten Kompetenzen weiter intensivieren.
- Digitalisierung und Industrielle Transformation 4.0: Hier wird sich zeigen, ob man es schafft, in Deutschland die Transformation weiter zu beschleunigen. Das erfordert vielerorts ein Umdenken der internen Arbeitsflüsse und -prozesse – das ist nicht einfach. Mit neuen Möglichkeiten der Prozessdigitalisierung und Virtualisierung von kompletten Arbeitsprozessen ändern sich auch die Anforderungen an die MA der Unternehmen.
- Hier kommen wir zum dritten Punkt. Wie schaffen wir es, topausgebildetes Personal für die Kautschukindustrie zu gewinnen? Die enge Zusammenarbeit innerhalb der DKG mit den Universitäten und wissenschaftlichen Instituten, wie dem DIK, ist hier nur ein Schlüssel. Man muss auch Wege finden, den Werkstoff Kautschuk begreifbar, erfahrbar zu machen und zwar bereits in der Schule, für junge Leute sowie Studenten, aber auch für Kollegen aus angegliederten Industriebereichen, die eine erweiterte Sicht auf die Lösung der Probleme ermöglichen.
Das mir entgegengebrachte Vertrauen als Vorstandsvorsitzender in der DKG erfüllt mich mit großem Stolz. Mir ist aber natürlich bewusst, wie groß die Verantwortung ist und wie anspruchsvoll die nächsten Jahre sein werden. Die Zusammenarbeit aller Mitglieder, Partner, Unternehmen und wissenschaftlicher Institute bilden das Rückgrat der DKG, auf das man sich immer verlassen konnte und auch in Zukunft verlassen kann. Auf dieser Basis werden wir nun die nächsten Jahre gemeinsam konstruieren.
Die Fragen stellte Simone Fischer, verantwortliche Redakteurin KGK.
Quellen
[1] Vergleich zwischen Pirelli Scorpion Elect und Pirelli Scorpion Reifen in der Größe 235/60/R18, zur Messung des Reichweitengewinns, der sich aus der Verringerung des Rollwiderstands der Elect-Version ergibt. Die Tests wurden mit einem Volkswagen iD4 unter instrumentierten Bedingungen bei einer konstanten Geschwindigkeit von 50 km/h und einer Reichweite von 550 km durchgeführt. Quelle: Interne F&E-Tests von Pirelli, durchgeführt zwischen März und Juni 2022.
[2] Berechnung auf der Grundlage von Verbrauchsindikatoren für den VW ID4 unter Berücksichtigung der durchschnittlichen Schnell-/Standardladekosten im Jahr 2023 in den EU-Ländern und einer durchschnittlichen jährlichen Fahrleistung von 15.000 km/Jahr. Die Kosteneinsparungen können je nach Fahrgewohnheiten und Fahrzeug variieren.
[3] Vergleich zwischen Pirelli Scorpion Zero All Season +3 Elect und Pirelli Scorpion Zero All Season +3 Reifen in der Größe 255/45R20. Quelle: Texas Test Fleet Test, durchgeführt im Januar 2024 auf einem Toyota Tacoma; Verschleißrate gemessen in mm/10.000 km.
[4] Vergleich zwischen Pirelli Scorpion Elect und Pirelli Scorpion Reifen der Größe 255/50R20. Quelle: Interne Tests von Pirelli R&D, durchgeführt im November 2022 an einem Audi E-Tron. Das Innenraumgeräusch wurde bei verschiedenen Geschwindigkeiten – 40-, 60-, 80- und 110 km/h – sowie auf verschiedenen Oberflächen (glatter/rauer Asphalt) gemessen. In allen acht Kombinationen (Geschwindigkeit/Asphalt) führten die Elect-Reifen zu einem geringeren wahrgenommenen Innengeräusch, im Durchschnitt um etwa -0,6 dB und bis zu -0,8 dB.
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