Im Bereich von Kautschukmischungen ermöglichen Werkzeuge unter Einsatz von KI-Techniken das Potenzial zur Rezepturoptimierung [1-9]. Darüber hinaus ist unschwer vorstellbar, dass auch Mischungen anderer Polymere wie TPEs, thermoplastische Materialien oder Polyurethane in ähnlicher Weise behandelt werden können. Als potenzielle Vorteile des Einsatzes von KI-gestützten Werkzeugen sind generell eine verkürzte Entwicklungszeit, Effizienz und Genauigkeit zu nennen. Besondere Herausforderungen ergeben sich jedoch in Szenarien, in denen methodisch aufgebaute – etwa im Rahmen der Versuchsplantechnik erstellte – Datensätze fehlen. Stattdessen sind Daten oft unter den unterschiedlichsten Gegebenheiten entstanden, wenig planvoll aufgebaut und oft lückenhaft.
Diese Hürden sind zu überwinden
Die Bedeutung der Entwicklung von Mischungsrezepturen in der Gummiindustrie ist unbestritten. Mischungen bestimmen nicht nur die Effektivität der Fertigung, sondern auch die Produktqualität und -funktionalität. KI-Technologien haben bereits Einzug in den Bereich der Mischungsfertigung gehalten. Darüber hinaus kann auch die Mischungsentwicklung von KI-Werkzeugen profitieren, die mit der Berechnung von Formulierungen die Entwickler in ihrer Arbeit unterstützen. Sobald sich die Entwickler von den Vorteilen einer KI-gestützten Mischungsentwicklung überzeugen können, wird diese auch in diesen Bereich weiter vordringen. Ende der 90er-Jahre konnte der Autor bereits ein erstes solches KI-Werkzeug testen. Allerdings ergaben sich erhebliche Abweichungen bei der Vorhersage von Mischungen, obwohl diese Tests mit einem einheitlichen Datensatz von mehreren hundert Mischungen durchgeführt wurden. Ein Hauptgrund für das Versagen lag letztlich in der mangelnden Transparenz beziehungsweise Rückverfolgbarkeit der Vorhersagen zu den Dateien, die in die Berechnungen einbezogen wurden. Fehler in den Daten ließen sich nicht identifizieren und korrigieren. Solche Situationen sind auch heute noch herausfordernd. Weitere Schwierigkeiten ergeben sich daraus, dass auch mit wenig methodisch aufgebauten Datensammlungen gearbeitet werden soll. Seit dem Einführen der Versuchsplantechnik, mit dem Vorteil des methodischen Aufbaus von – in der Regel – zahlenmäßig kleinen Datensätzen durch Variation weniger Zutaten, gab es Versuche, deren Grenzen zu sprengen [10-12]. Ein wichtiges Anliegen war dabei, dass auch historisch entstandene Dateien für die Entwicklung nutzbar zu machen. Und gerade KI sollte dafür prädestiniert sein, dieses Anliegen gut zu erfüllen. Probleme bereitet dabei jedoch die Tatsache, dass viele denkbare Mischungen keine erwünschten Lösungen darstellen, unter anderem:
- wegen unverträglicher Polymere,
- Mischung inkompatibler Vernetzungssysteme, wie zum Beispiel solchen, die auf Schwefel, mit solchen, die auf Peroxid basieren, oder auch
- Polymere, welche mit speziellen Zutaten vernetzt werden und deren Mischung mit Standardsystemen technologisch unsinnig ist.
Manche solcher Randbedingungen sind in umfangreichen, bestehenden Datensammlungen nicht direkt erkennbar und deshalb für KI-Werkzeuge eine Hürde, wenn es darum geht, ausschließlich sinnvolle Mischungen zu erzeugen.
Des Weiteren können sowohl Zutaten als auch Eigenschaften ungleich verteilt sein. Unter Umständen stehen dann für eine mögliche Lösung zu wenig Daten zur Verfügung oder eine Vorhersage ist wenig verlässlich.
Manche Randbedingungen sind in
umfangreichen Datensammlungen nicht
direkt erkennbar und stellen
deshalb eine Hürde für die KI dar.
Ein praktischer Ansatz zum Einsatz von KI
Die Analyse des oben erwähnten Misserfolgs beim Vorhersagen von Mischungen führte zur Entwicklung eines KI-Werkzeugs mit dem Namen „Graf-Compounder“ [13-16]. Dieses Werkzeug gründet auf einem sehr praktisch orientierten Ansatz. Es weist keine sogenannten „geheimen“ Domänenkenntnisse auf und ebenso versucht es nicht, Gleichungen aus den ihm zugewiesenen Daten abzuleiten. Stattdessen behandelt das Werkzeug jede Rezeptur als Datenpunkt, bestehend aus einer Liste von Zutaten mit den zugehörigen Mengenangaben und einer Liste von Eigenschaften mit deren gemessenen Werten. Jeder Datenpunkt kann als n-dimensionaler Vektor beschrieben werden, wobei n die Anzahl der Zutaten und Eigenschaften ist. Der Kern dieses Werkzeugs ist mit einem genetischen Algorithmus ein spezielles KI-Verfahren, welches sich einer Lösung über mehrere Zwischenschritte (Generationen) annähert. Das Verfahren arbeitet vollautomatisch und verbindet dabei die Datenpunkte untereinander mit Hilfe einfacher Interpolation. Es entscheidet dabei, welche Datenpunkte/Vektoren unter Verwendung welcher Faktoren gemischt werden sollen, um die vom Nutzer vorgegebenen Eigenschaften der Mischung am besten zu erfüllen. Er kümmert sich dabei sowohl um die Auswahl der am besten geeigneten Datenpunkte als auch, wenn nötig, um das Ermitteln von guten Kompromissen zwischen allen Vorgaben. Dazu verwendet das Verfahren intern eine als „Fitness-Funktion“ bezeichnete Rechenvorschrift, welche es selbst aus den vorgegebenen Kriterien erstellt.
Der Compounder verwendet die vorhandenen Datensätze ohne weitere Veränderungen. Einschränkungen, die sich aus der Struktur der Datensätze ergeben, müssen hingenommen oder vom Nutzer bearbeitet werden. Dafür stehen in der Software einige Tools zur Verfügung:
- Datensätze werden automatisch von der Berechnung ausgeschlossen, wenn sie keine Werte für Eigenschaften aufweisen, die als Kriterium vorgegeben sind.
- Die Häufigkeitsverteilung jedes Mischungsbestandteils und jedes Prüfwertes kann angezeigt und beurteilt werden.
- Datensätze können hinzugefügt und integriert werden.
- Die Zusammensetzung der gemäß den Vorgaben errechneten Mischung wird vollständig angezeigt (mit Rückverfolgbarkeit zu den Ursprungsrezepten).
Werden Sie Teil unseres Netzwerkes bei LinkedIn
KGK Kautschuk Gummi Kunststoffe - International Journal for Rubber and Polymer Materials sowie aktuelle Informationen – News, Trend- und Fachberichte – für Kautschuk- und Kunststoffverarbeiter. Folgen Sie unserem LinkedIn.
Historisch entstandene Mischungs-Datenbanken umsetzen
Der Mangel an systematisch aufgebauten historischen Datensätzen ist eine Herausforderung und erfordert einen praktischen Ansatz beim Einsatz von KI-gesteuerten Werkzeugen. Um die Präzision und Effektivität des Werkzeugs zu gewährleisten und technologisch unsinnige Ergebnisse zu vermeiden, sollten Mischungen von unverträglichen Polymeren oder Vernetzungsystemen in getrennten Datensätzen abgelegt und verwendet werden. Der hier vorgestellte KI-Compounder trifft derartige Unterscheidungen nicht. Messwertabweichungen und Messfehler sind zu beurteilen und danach zu entscheiden, ob Datensätze im Datenbestand belassen oder herausgenommen werden. Es liegt nahe, Datensätze aus unterschiedlichen Quellen zu sammeln, um schnell zu großem Datenvolumen zu kommen, wie bei KI-Anwendungen üblich. Jeder Wert einer Eigenschaft wird jedoch mit gleicher Gewichtung behandelt. Es wird auch nicht zwischen einem Prüfwert und dem „wahren“ Prüfwert unterschieden. Eine Methode zum Bewerten von Prüfwerten aus unterschiedlichen Quellen ist schwer vorstellbar, weil die Unterschiede nicht vorhersehbar sind und auch nicht kalkuliert werden können. Daher ist es sinnvoll, dass ausschließlich Daten verwendet werden, denen der Nutzer vertraut, um das Werkzeug effektiv einzusetzen.
Die Qualität von Datensätzen lässt sich möglicherweise mit Hilfe von Korrelationen von Eigenschaften mit Zutaten oder von Eigenschaften untereinander beurteilen. In dem Werkzeug wird ein Tool angeboten, mit dem sich Zusammenhänge von Zutaten- und/oder Eigenschaftsbeziehung als 2D-Grafiken darstellen lassen und deren Korrelationskoeffizienten ausgeben werden. Wahlweise kann auch die Beziehung dreier Größen untereinander über die Anzeige einer 3D-Grafik analysiert werden. Rezepturen von Kautschukmischungen oder anderen Polymerzusammensetzungen wie TPEs, thermoplastische Materialien und Polyurethanverbindungen können verwendet werden, solange die Rezepturen normiert vorliegen, wie es in der Gummiindustrie üblich ist. Derzeit erfordert der Einsatz von KI-Werkzeugen technologisches Wissen und Urteilsfähigkeit nicht nur bei der Auswahl und Zusammenstellung der Daten für eine Berechnung, sondern auch bei der Prüfung, ob das Ergebnis mit den Erfahrungen und Wissen in Einklang ist. Daher lassen sich aktuell KI-Werkzeuge für die Mischungsentwicklung eher als Assistenzsysteme einordnen, die in die Hand eines Kautschuktechnologen gehören.
Fachspezifisch informiert mit dem KGK-Contentletter
Aktuelle Nachrichten, spannende Anwenderberichte und branchenrelevante Produktinformationen sowie wissenschaftliche Veröffentlichungen erhalten Sie mit dem KGK-Contentletter einmal monatlich kostenfrei direkt in Ihr Postfach.
Welche Perspektiven ergeben sich?
Die Verbindung von KI mit der Entwicklung von Mischungsrezepturen bietet praktische Vorteile. Diese Vorteile umfassen:
- Effizienz: Ein systematischer Ansatz zur Entwicklung, der den Aufwand für Experimente minimiert und damit den Entwicklungsprozess beschleunigt.
- Genauigkeit: Die Nutzung von KI-gesteuerten Werkzeugen ermöglicht es, mithilfe von gezielter Variation der Kriterien gezielt auf bestimmte Materialeigenschaften hinzuarbeiten.
- Optimierung: Die Fähigkeit, bestehende Formulierungen zu verbessern und an spezifische Anforderungen anzupassen.
- Nachhaltigkeit: Abfallreduktion durch geringeren Aufwand in der Versuchsphase: Mit Hilfe der Simulation können viele Rezepturen analysiert und wenige davon für Bestätigungsversuche ausgewählt werden.
Mit der fortschreitenden Entwicklung des hier vorgestellten KI-Werkzeugs wird die Anwendbarkeit bei historisch gewachsenen Datenbeständen noch vielversprechender, sobald es gelingt, Beurteilungskriterien, beispielsweise zur Verlässlichkeit der Daten, zu entwickeln, die eine KI verarbeiten kann.
Was ermöglicht die KI bei der Mischungsentwicklung?
Das Werkzeug für die KI-gestützte Entwicklung Graf-Compounder für Gummimischungen markiert einen methodischen Fortschritt im Bereich der Rezeptentwicklung für Polymerformulierungen. Abweichend von herkömmlichen Versuch-und-Irrtum-Methoden erlaubt dieses Werkzeug dem Entwickler, sein Fachwissen mit KI-gestützten Berechnungen zu kombinieren. Diese Integration führt zu prädiktiver Modellierung und generativem Design, was die Entwicklung beschleunigt und die kreative Erkundung neuer Möglichkeiten bei der Mischungsentwicklung fördert. Das Werkzeug bietet praktische Ansätze für die Entwicklung von Mischungsrezepturen in der Gummiindustrie, selbst wenn systematisch aufgebaute historische Datensätze fehlen. Sein Anwendungsbereich erstreckt sich auf verschiedene Polymerzusammensetzungen wie TPEs, thermoplastische Materialien und Polyurethanverbindungen, was seine Vielseitigkeit unterstreicht. Das Trennen von Mischungsdatensätzen mit unverträglichen Kautschuk- oder Vernetzungssystemen steigert die Präzision des genutzten KI-Werkzeugs. Die fortlaufende Entwicklung von KI in diesem Bereich unterstreicht das Potenzial, Branchen zu verändern und die Entwicklung von Mischungsrezepturen und Polymerformulierungen neu zu definieren.
Literature
- C.R. Chen, H.S. Ramasdwamy, Modeling and optimization of variable retort temperature (VRT) thermal processing using coupled neural networks and genetic algorithms, Journal of Food Engineering, 53 (3) , 2002, P 209-220.
- R. C. Rowe, E. A. Colbourn, Neural Computing in Product Formulation, Chem. Educator 2003, 8, 1-8.
- Y. Shen, K. Chandrashekhara, W.F. Breig, L.R. Oliver; Neural Network Based Constitutive Model for Rubber Material. Rubber Chem. Technol. 2004, 77, 257-277.
- V. Vijayabaskar, R. Gupta, P. P. Chakrabarti, A. K. Bhowmick, Prediction of properties of rubber by using artificial neural networks. J. Applied Polymer Sci. Vol 100 (3), 2005.
- M. Trebar, Z. Susteric, U. Lotric, Predicting mechanical properties of elastomers with neural networks, Polymers 48 (18) 2007, p 5340-5347.
- L. Xiang, P.-Y. Xiang, Y. P Wu, Prediction of the fatigue life of natural rubber composites by artificial neural network approaches, Materials & Design Volume 57, 2014, P 180- 185.
- U. Kumar, C. Harimohan, N.C. Jayaraj, V. Jain, Smart Compounding – The Application of Neural Nektworks hold great benefits for tire technology, Tire Technol. Int. 2017, p 72-74.
- I. Ruziak, P. Kostial, Z. Jancikova , M. Gajtanska, L. Kristak, I Kopal, Peter Polakovic, Arti fi cial Neural Networks Prediction of Rubber Mechanical Properties in Aged and Nonaged State, p 27 – 35; in A. Öchsner, H. Altenbach (eds.), Improved Performance of Materials – Design and Experimental Approaches, Springer 2018.
- U. Zeyneb, A. Kiraz, Artificial Intelligence based prediction models for rubber compounds. J. Polymer Eng. 43, 2, (113-124), (2022).
- EP 0865 890 A1,(1998), Method of Designing Multicomponent Material, Optimization and Storage Medium on Which Multicomponent Material Optimization Analysis Program is Recorded, Applicant: Bridgestone Corporation.
- US 7541122B2, (1996), Empirical Design of Experiments Using Neuronal Network Models, Assignee: Honeywell International Inc.
- G.A. Schwartz, (2001), Prediction of Rheometric Properties of Compounds by Using Artificial Neural Networks, Rubber Chemistry and Technology 74(1), 116-123.
- Graf, H-J., Methodical Recipe Development: Increases Technological and Economical Advantages [GE], Conference Proceeding at IRC 2009, June 29 - July 2, 2009, Nuremberg, Germany.,
- Graf, H-J., A New Tool for a Systematic Development and Improvement of Compounds [ENG], Paper presented at Rubber Division of ACS, 183 Spring Meeting, Akron, OH, April 24. 2013, USA.
- Graf, H-J., Sirisinha C., Pangamol, P., Simulation of a statistical experimental design with a new software tool, Rubber Fibre Plastics 04/2015 (Vol 10), 266-276.
- Graf, H-J., Where are we with Artificial Intelligence & Machine Learning in Rubber Development? Poster Presented at RubberCon 23, 10-11 May 2023, Edinburgh, Scotland.
Quelle: H-JG Consulting